In 10 Schritten vom Angsthund zum angstaggressiven Hund
Eventuell ist in diesem Beitrag ein kleines bisschen Zynismus und jede Menge Wut enthalten.
Schritt 1 – die richtige Auswahl des Hundes
Man nimmt einen Hund aus dem Tierschutz mit ungewisser Vergangenheit bei sich auf. Man verlässt sich auf die natürlich komplett überzeugenden Aussagen der Tierschützer, dass der Welpe total unkompliziert sei. Freundlich, offen, neugierig und überhaupt nicht auffällig. Wenn dann der Welpe kommt, dann täuscht natürlich der Eindruck, dass der Transporter ziemlich verdreckt ist und der Hund schon 10m gegen den Wind stinkt. Die Übergabe auf dem Autobahnparkplatz bei Nacht ist auch total unverdächtig. Schließlich war es eine weite Fahrt und da ist das einfach schlecht zu planen. Die Tatsache, dass der Hund direkt einen kompletten 1,5l Wassernapf in einem Zug leert, war auch nicht irgendwie komisch. Im neuen Zuhause angekommen attackiert der unkomplizierte Welpe jeden, der sich dem Fressnapf nähert.
Mit ein bisschen (viel) Training wird das besser und der Welpe akzeptiert Menschen in seiner Nähe.
Schritt 2 – Hundebegegnungen an der Leine
Natürlich muss der Welpe viele neue Freunde kennenlernen. „Nur mal Hallo sagen“ an der Leine ist besonders beliebt. Mit der Flexileine wird der Hundehalter kurzerhand gefesselt, damit der Welpe von allen Seiten beschnüffelt und ausgiebig untersucht werden kann. Äußerungen des Welpenbesitzers, dass er das nicht möchte, werden weggewischt und mit dem Totschlagargument „der muss da durch und nur so wird er gut sozialisiert“ plattgewalzt. Der Welpe übrigens ebenso. Wenn er sich dann verteidigt, dann hat man eine aggressive Bestie (das vorherige Gewinsel und die kompletten Vorstufen von Lefzenlecken, Zähne zeigen, Abwendung und leisem Knurren wurde komplett ignoriert).
Schritt 3 – gemeinsames Spiel
Natürlich muss der Welpe – inzwischen Junghund – spielen. Mit jedem Hund und er muss jeden Hund lieben. Er muss es toll finden, wenn er von 5 großen Hunden gejagt wird, obwohl er grade ein Viertel eines der Hunde wiegt. Der Besitzer, der seinen Hund beschützen möchte, wird kurzerhand überrannt und bleibt mit zerfetztem Meniskus handlungsunfähig am Boden liegen. Soll sich halt nicht so anstellen. Das Knie ist eben ein Scharniergelenk und mit ein paar Kilos weniger, hätte der Besitzer ja auch ausweichen können. Verteidigt sich der Junghund, ist er eine Bestie und die Besitzerin eine fette Kuh, die keine Ahnung von Hunden hat.
Schritt 4 – der eigene Zeltplatz
Zelten mit Hund ist toll! Also auf geht’s! Ein schöner Zeltplatz ist schnell gefunden. Separate Nischen und generelle Anleinpflicht auf dem gesamten Zeltplatz. Das Zelt ist aufgebaut, ab an den Strand. Wunderschön. Dort dürfen in bestimmten Abschnitten die Hunde sogar frei laufen – sofern sie verträglich sind und alle einverstanden sind. Der dort zuständige Bademeister achtet auf die Einhaltung der Regel – nicht! Am Strand geht sogar alles glatt, da die Hunde alle etwa gleich groß sind und vom Naturell her eher schüchtern. Mit einem sehr positiven Gefühl geht man nun zum Zelt und stellt fest, dass die Blase drückt. Also Pflock in den Boden, Hund angeleint und kurz auf die Pipibox. Beim Zurückkommen, hört der Besitzer den eigenen Hund schon kreischen und rennt schnell hin. Dort steht ein Mann und prügelt auf den angeleinten Hund ein. Im anschließenden Streit äußert er, dass die Bestie ihn angebellt habe, als er sich nur mal das Zelt angucken wollte. Hallo???
Schritt 5 – Spazierengehen nach einer Operation
Nach der zweiten Läufigkeit stellt sich eine Gebärmutterentzündung und Eierstockvereiterung ein und der Hund muss notoperiert werden. Er überlebt es knapp und 4 Wochen Leinengassi sind die Folge. Jeder entgegenkommende Hundebesitzer wird darüber informiert, dass der Hund den OP-Body nicht aus modischen Gründen trägt, sondern eine OP-Narbe schützt. Nachdem ein „Der-Tut-Nix“ den an der kurzen Leine geführten Hund attackiert und die OP-Narbe inklusive weiterer 15 Zentimeter Haut aufreißt, reißt ein gewisser Geduldsfaden und die Besitzerin verprügelt zum ersten Mal in ihrem Leben einen Hund und einen Menschen. Der Hund wird schnellstens notoperiert und überlebt es wieder. Andere Hunde sind blöd. Menschen sind auch blöd.
Schritt 6 – Turniersport
Einige Jahre und viele Trainingseinheiten sowie eine erfolgreich bestandene Begleithundeprüfung später, stellt man sich dem Turniersport. Alles wird trainiert, von der Halsbandkontrolle über die Übungen für einen guten Lauf. Also wird der Hund im teilweise geschlossenen Zelt zurückgelassen, während man den Parcours abgeht. Das Zelt steht sehr weit abseits vom Geschehen und die ganze Wiese ist komplett frei. Von lautem Geschrei und dem unverkennbaren Angstbellen des eigenen Hundes alarmiert, rast der Besitzer zurück zum Zelt, um einen fremden Hund aus dem Zelt und vom eigenen Hund zu reißen. Der andere Besitzer hielt den Platz vor dem Zelt für den perfekten Ort, um dort mit seinem Hund ein angeregtes Spiel zu veranstalten. Der Hund meinte, der Sprung über die Zeltplane und rein zu dem anderen Hund wäre perfekter. Ein Turnier läuft sich wunderbar, wenn der Hund direkt davor von einem anderen attackiert wurde.
Schritt 7 – angeleint warten
Maulkorbtraining und viele viele Monate üben später kann der Hund wieder angeleint warten, während der Besitzer sich einige Meter entfernt. Die Bitten, um etwas Abstand und Bögen laufen, werden teilweise belächelt oder als sinnlos abgetan. Bellt der Hund oder reagiert ungehalten, dann ist er wieder die Bestie. Sämtliche Vorzeichen werden natürlich ignoriert. Alles, was dem Hund mühevoll wieder beigebracht wurde, Kopf abwenden, Lefzen lecken, dezentes Lefzen heben etc. Schießt er dann vor, um seinen Platz zu verteidigen, sind böse Worte noch das geringste.
Schritt 8 – das Auto
Die Autobox ist toll. So wurde es trainiert und auch verinnerlicht. Dort hat Hund immer seine Ruhe. Ja… aber man muss ja direkt vor dem Auto stehen, in dem ein Hund liegt und sich dort mit seinen beiden Hunden lautstark unterhalten, dass sie den in der Box liegenden Hund doch mal angucken sollen. Also Pfoten auf die Stoßstange und mit der Schnauze dicht an das Gitter. Bellt der eingesperrte Hund dann, ist er ein Monster und wird beschimpft. Ran kommt man nicht, da die Box abgeschlossen ist. Herbeieilende Besitzer werden beschimpft, dass die Bestie besser gesichert gehört. Hallo???
Schritt 9 – der Garten
So ein Garten ist was schönes, Zaun drumrum und gemütlich im Rasen chillen. Wunderbar. Vorbeilaufende Hunde und Menschen werden zwar beäugt, aber sind unproblematisch. Dann hopst plötzlich einer der vorbeilaufenden Hunde in den Garten und stürzt sich auf den gemütlich liegenden Hund. Naja, der Besitzer soll sich halt nicht so anstellen. Ist ja nix passiert. Und dass der Besitzer den angreifenden Hund am Nackenfell gepackt hatte aus dem Garten geschmissen hat, war auch total überzogen. Das hätte man auch freundlicher machen können.
Schritt 10 – Hundeplatz
Den Hund aus Rücksicht und Vorsicht im Auto ablegen (natürlich mit einer Sonnenschutzfolie abdeckt und vorher schwimmen gewesen), um ihn nur für die Trainingszeit oder Gassirunden rauszuholen, das ist Rücksichtnahme und Erfahrung. Also wird der Hund nun geholt und mit viel positivem Gesäusel zum Trainingsgelände geführt, als aus dem Nichts zwei unangeleinte Hunde angeschossen kommen und sich auf den Hund stürzen. Der dazugehörige Besitzer holt sie zwar gleich ab, stellt sich aber mit beiden Hunden in unmittelbarer Nähe hin und wundert sich, dass der soeben attackierte Hund knurren würde und am ganzen Leib zittert. Sehr komisch. Bei einer kurzen Drüberschau, werden keine offensichtlichen Wunden gefunden und schon kommt der lapidare Kommentar: „Ist ja nix passiert!“.
Fazit
Nein, verdammte Axt! Es ist wieder mal „nix passiert“. Wir trainieren, wir üben und immer, wenn ich mich einigermaßen sicher fühle, passiert wieder das schlimmste: Das mühsam aufgebaute Vertrauen in mich wird wieder zerstört. Mit etwas Glück fange ich nicht wieder ganz von vorne an, sondern vielleicht nur bei 10% vom vorigen Stand. Es muss aber nicht ständig sein. Immer wieder bekommen wir einen Nackenschlag. Warum muss immer Shiva die Dumme sein? Wenn sie sich wehrt, dann habe ich die Bestie. Aber warum muss sie immer in die Situation gebracht werden, dass sie sich verteidigen muss? Jedes. Verdammte. Mal! Es ist irgendwann genug.
Im eigenen Garten leine ich Shiva an, weil sie seit einen Vorfall über den Zaun springt und vorbeilaufende Hunde attackiert, bevor sie wieder reinspringen und sie angreifen. Überall versuche ich die Dummheit aller Mitmenschen vorauszuahnen und meide viele sehr schöne Stellen, einfach um Begegnungen zu vermeiden. Wir verkriechen uns, obwohl wir die schönste Zeit unseres Lebens haben sollten! Warum? Weil ich es leid bin. Weil ich Shiva beschützen möchte. Weil ich einfach nicht mehr beschimpft und verletzt werden möchte. Irgendwann ist genug! Und dieser Punkt ist jetzt erreicht. Der nächste, der seinen Hund in uns reinrumpeln lässt, der kann was erleben. Es reicht mir!